Licht ist nicht gleich Licht. Wer viel reist, stellt schnell fest: Von Land zu Land sind die Lichtgeschmäcker verschieden. Kultur und geografische Lage haben einen starken Einfluss darauf, wie private und öffentliche Räume beleuchtet werden. Die preisgekrönte Lichtdesignerin Chiara Carucci nimmt uns mit auf eine Reise.
Sind Sie schon einmal nachts in Italien oder Spanien angekommen? Dann haben Sie sich vielleicht gefragt, ob ein Großteil der Wohnhäuser wohl ausgestorben ist. Verrammelte Türen, verriegelte Fenster – man wundert sich, wo all die Menschen geblieben sind. Ganz anders in Nordeuropa: Hier strahlt das Licht aus den Fenstern, helle, einladende Tupfer in der Dunkelheit. Im Vorbeigehen lassen sich kurze Einblicke in das Innenleben erhaschen. Das war der erste große Unterschied, der Lichtdesignerin Chiara Carucci auffiel, als sie vor über einem Jahr von Mailand nach Stockholm zog.
Carucci ist Expertin für Lichtdesign im kulturellen Kontext. Ihr Beruf führt sie um die Welt. Bei den Lighting Design Awards in London wurde sie kürzlich zu einer der einflussreichsten Vertreterinnen ihrer Zunft unter 40 Jahren gekürt. „Wenn man in verschiedenen Ländern arbeitet, findet man schnell heraus, wie sehr sich Stil, Anwendung und Zweck der Beleuchtung unterscheiden“, sagt die Designerin. Besonders fasziniert sie, welchen Einfluss der jeweilige kulturelle Hintergrund und die natürliche Umgebung auf den Umgang mit Licht haben.
„Das Tageslicht ist der bestimmende Faktor“, erläutert Carucci. Dabei geht es nicht nur um seine Intensität, sondern auch darum, wie die Menschen seine unterschiedlichen Facetten und Rhythmen wahrnehmen: „Welches Verhältnis haben Menschen zum Tageslicht, was empfinden sie dabei? Das ist von Land zu Land verschieden.“ Die Dauer von Sonnenauf- und untergang, die Farben des natürlichen Lichts, der Sonnenstand – all diese Faktoren beeinflussen unsere Wahrnehmung und unsere Vorlieben in punkto Licht. „Designer müssen diese komplexen psychologischen Prozesse verstehen und berücksichtigen“, erklärt Carucci.
Ein gutes Beispiel ist das Spiel mit den Schatten, etwa bei der Beleuchtung von Fassaden und öffentlichen Bereichen. “In Schweden verursacht der tiefe Sonnenstand oft lange Schatten. Sie sind stilprägend und werden oft ins Design miteinbezogen, etwa indem man künstliches Licht bewusst durch das Geäst eines Baumes fallen lässt.“ Anders das Bild im Süden: Die Sonne scheint hier fast senkrecht vom Himmel, die Menschen sind gleißendes, direktes Licht gewöhnt. Langer Schattenwurf wäre undenkbar: “Ich erinnere mich, dass ich in Italien mal fast eine ganze Nacht damit verbracht habe, eine Gebäudefassade weitestgehend schattenfrei zu kriegen.“
Auch bei der Farbwahl gibt es Unterschiede. Je weiter man in den Norden reist, desto länger dauert die blaue Stunde – jene Phase der Dämmerung, in der das indirekte Licht eine bläuliche Schattierung erzeugt. In Skandinavien kann dieses Farbenspiel bis zu zwei Stunden dauern; in Südeuropa dagegen manchmal nur ein paar Minuten. Die Nordländer sind also an farbenprächtige Himmel gewöhnt. „Ich denke, dass auch das Polarlicht eine wichtige Rolle spielt. Dank dieses Himmelsphänomens haben Nordeuropäer ein ausgeprägteres Verständnis für die Dynamik von Farbtemperaturen als Südeuropäer.” Das Resultat: in Skandinavien ist der Umgang mit farbigem Licht viel selbstverständlicher. Während es im Norden häufig Bestandteil des öffentlichen Raums ist, wird es weiter südlich nur bei außergewöhnlichen Anlässen, etwa auf Festivals, eingesetzt.
Doch die Wahl des Lichts ist auch eine Frage der Bedürfnisse. In Nordeuropa verbringen Menschen viel Zeit zuhause, vor allem im Winter. „Die Wahrnehmung des Wohnraums wird davon stark beeinflusst“, erklärt Carucci. In Schweden zum Beispiel werden Lichter – Tischleuchten oder Hängeleuchten – oft sehr nah an Fenstern platziert. Dadurch entsteht der Eindruck, das Licht strahle von außen herein. Wie in vielen Teilen der Welt steigt auch hier in den Wintermonaten die Sehnsucht nach warmen, gemütlichen Lichtstimmungen. Doch was die nördlichen Länder von anderen Regionen unterscheidet, ist der Sinn für vielschichtiges Licht. „Licht ist mehr als nur Dekoration; es ist ein wichtiger Bestandteil des Wohnraums.“ Im Süden hingegen ist das Sonnenlicht so hell, dass die Innenbeleuchtung oft nur den Zweck erfüllt, noch ein wenig heller zu strahlen. Das ist vor allem in Geschäften zu beobachten. Üblich in südlichen Gefilden ist es auch, die Fenster zu verdunkeln. Das hält die Hitze im Sommer draußen – und sorgt für eine ungestörte Siesta.
Folgt man Carucci, geht es beim Lichtdesign nicht nur um die baulichen Gegebenheiten, sondern vor allem um Emotionen. „Designer interpretieren Gefühle und vermitteln sie mit Hilfe der Sprache des Lichts,” erklärt sie. „Licht ist ein wunderbares Medium, mit dem sich der Alltag der Menschen verbessern lässt. Licht verstärkt unser Wohlbefinden enorm.” Die Arbeit mit Licht ist komplex, oft interdisziplinär. Darum arbeitet Carucci auch immer wieder mit Physikern und Ingenieuren sowie Experten aus Wirtschaft, Kommunikation und Kultur zusammen – vor allem dann, wenn sie geografisch oder kulturell Neuland betritt. „Aus dem Zusammenspiel all dieser unterschiedlichen Blickwinkel entsteht schließlich die perfekte Balance aus Funktion, Ästhetik und Sinn für den Lebensraum“, fügt sie hinzu.
Für Carucci ist Lichtdesign daher die „ganzheitliche Disziplin” schlechthin. Ein guter Designer zu sein, bedeutet, ein Verständnis für vielfältige Themenbereiche zu entwickeln, von Geschichte bis zu Soziologie. Interessanterweise erklärt sie aber, dass sie diese Vielfalt an Faktoren kaum jemals erwähnt, wenn sie über ihre Design-Ideen spricht. „Es kann schwierig werden, dafür eine gemeinsame Sprache zu finden,” sagt sie. „Wenn ich meine Kunden inspirieren, sie für eine Idee gewinnen will, erzähle ich ihnen lieber die Story, die hinter dem Design steckt!“
Wenn Sie also das nächste Mal verreisen, achten Sie doch mal auf das Licht im Innern von Gebäuden. Mal sehen, wie viele Unterschiede Ihnen auffallen – und wie viele Sie erklären können!
Chiara Carucci hat Licht schon immer fasziniert. In einer ihrer frühesten Erinnerungen unterbreitete sie ihrer Mutter, dass sie die Leuchten für die Stadtfeste in Italien gestalten wollte. Da war sie fünf Jahre alt. Heute genießt sie einen internationalen Ruf in der Fachwelt des Lichtdesigns. Im Rahmen des Internationalen Jahres des Lichts 2015, ausgerufen von der UNESCO, startete sie eine erfolgreiche Kampagne, um Lichtdesigner und deren Verbände aus unterschiedlichen Ländern zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ziel war es, Wahrnehmung und Ansehen der Branche zu steigern. Nach vielen Jahren in Mailand lebt sie nun in Stockholm und arbeitet dort als Lichtdesigner für ÅF Lighting.